Nach Schlaganfall ein Leben fast ohne Worte
Artikel vom 02.05.2022

Beim Oldenburger Aphasie-Treff haben sie Rückhalt gefunden und sind Freunde geworden (von links): Dieter Maichrzak, Susanne Adamczyk sowie Frank Hahn und seine Frau Waltraud. Bild: Anja Biewald
Ja, nein, scheiße und Mama: Auf diese Wörter begrenzte sich der Wortschatz von Frank Hahn nach seinem Schlaganfall. Aphasie heißt diese Sprachstörung. In Oldenburg gibt es eine Selbsthilfegruppe
„An Weihnachten kam er nach Hause, im Rollstuhl und ohne Sprache“: Es sind die Worte eines Jungen, von Patrick Hahn, dessen Leben sich durch den Schlaganfall seines Vaters radikal veränderte. Das war 2009. Ein normales Gespräch mit Argumenten, Ausschmückungen, ausgedrückten Gefühlen und Gedanken hat es danach zwischen Vater und Sohn nie gegeben. Denn Frank Hahn ist Aphasiker, passende Worte wollen einfach nicht aus seinem Mund kommen.
Ende des Arbeitslebens
Nach seinem Schlaganfall am 6. November 2011 begrenzte sich der Wortschatz von Frank Hahn auf vier Worte: ja, nein, scheiße und Mama. 48 Jahre war er an diesem Tag alt, seine Frau Waltraud Meyer-Hahn 38, Sohn Patrick 6. Monatelange Reha, viel Schlaf, ständige Therapien: Frank Hahn kämpfte sich mühsam zurück ins Leben. Erst musste er Sitzen, dann das Laufen und Treppensteigen lernen.
Was geblieben ist, ist die massive Störung des Sprachzentrums, die Aphasie. Sein Beruf als Elektroingenieur hat sich erledigt. „Ohne Sprache ist eigentlich keine Arbeit möglich“, sagt Waltraud Meyer-Hahn. Denn ihrem Mann fehlt aufgrund der Aphasie nicht die Stimme, die mit Gebärdensprache überbrückt werden könnte, ihm fehlen die Worte. Er weiß in Gedanken, was er sagen will, und doch geht es nicht. Sohn Patrick formulierte es als Kind so: „Man muss, wenn er einem etwas sagen will, immer mitdenken. Er schafft es sonst nicht, jemandem etwas Wichtiges zu sagen.“ „Die kleinsten Fragen und Mitteilungen sind oft unüberwindbare Hürden“, beschreibt Waltraud Meyer-Hahn.
Rückhalt
Rückhalt, Austausch, Informationen, Selbstbewusstsein und neue Freunde haben Hahns im Oldenburger Aphasiker-Treff gefunden. Der Bad Zwischenahner besucht wöchentlich die Runde für die Betroffenen, seine Frau einmal im Monat die Gruppe für die Angehörigen der Aphasiker. Dort haben Hahns auch Susanne Adamczyk und ihren Mann Dieter Maichrzak kennengelernt.
Nach Hirnblutung auf Null
In dieser Beziehung ist sie die Aphasikerin. Nach einem geplatzten Hirnaneurysma an ihrem 44. Geburtstag 2010 erkannte die Oldenburgerin ihre Eltern und ihren Partner nicht mehr. Und ihr fehlte die Sprache. Ihrem Mann gab sie den Namen eines Ex-Partners und „Arbeit“: Das waren die zwei Worte, die Susanne Adamczyk noch sprechen konnte. Ansonsten kamen Fantasiewörter aus ihr heraus. „Sie musste bei Null anfangen“, sagt Dieter Maichrzak.
Anfangs hat sie viel geweint, musste sich damit abfinden, ihren Job als Datenschutzbeauftragte nie wieder ausüben zu können, musste sich mit einem völlig neuen, ungewollten Leben abfinden. Mit Therapien hat sie große Fortschritte gemacht, sie kann Gesprächen folgen, sich selbst ganz gut ausdrücken, wenn ihr Gegenüber ihr die Zeit dafür lässt. Fehlen ihr die Worte, hilft ihr Mann aus.
Immer mit Humor
Plaudern, sich ausdrücken, mitreden: Das wollen alle Aphasiker. Und deshalb ist es beim Treffen der Selbsthilfegruppe in Oldenburg alles andere als leise. „Das müssen Sie mal erleben“, sagt Waltraud Meyer-Hahn und lacht: „Die wollen alle gleichzeitig etwas sagen und übertönen sich gegenseitig.“ Aber das Wichtige: Am Ende der Treffen haben Gespräche, hat Austausch stattgefunden. Und in der Runde geht es immer humorvoll zu. Gelacht wird dabei auch über die Aphasie. So wie auch beim Pressegespräch, als Frank Hahn erklärt, dass er zumindest mit „ja, nein und scheiße“ nach dem Schlaganfall durchaus etwas ausdrücken konnte, während „Mama“ weniger hilfreich war. Oder sich Susanne Adamczyk daran erinnert, dass sie „Elvis“ essen wollte und „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ blaffte, als sie eine Hose kaufen wollte. Waltraud Meyer-Hahn bringt das Zusammenleben mit einem Aphasiker so auf den Punkt: „Das Leben ist für uns nicht schlecht, nur komplett anders.“
Der Aphasie-Treff Oldenburg kommt immer dienstags von 10 bis 12 Uhr im Gemeindehaus der Versöhnungskirche, Kranbergstraße 7, zusammen. Derzeit gehören der Gruppe etwa 20 Mitglieder aus verschiedenen Altersklassen aus Oldenburg und umzu an. Auch sind in der Gruppe alle Aphasieformen in verschiedenen Ausprägungen abgebildet.
Der Austausch steht im Mittelpunkt der Treffen. Die Mitglieder versorgen sich gegenseitig mit neuen Informationen, unterstützen sich bei Behörden-, Versicherungs- und Therapiefragen, und machen in der Runde die wohltuende Erfahrung, mit der Aphasie nicht alleine zu sein.
Die Angehörigen der Aphasiker tauschen sich in einer zweiten Gruppe aus. Diese kommt an jedem zweiten Dienstag im Monat ab 19 Uhr in wechselnden Restaurants zusammen. Das nächste Treffen findet am 10. Mai im Oldenburger Santorini, Ammerländer Heerstraße 80, statt. Beistand, gegenseitige Hilfestellungen, jährliche Ausflüge und vor allem gemeinsames Lachen sind Grundlage der Angehörigen-Gruppe.
Der Kontakt zu den Gruppen für die Aphasiker und deren Angehörige kann über Heidi Klein hergestellt werden: 0441/30789. Per E-Mail ist die Gruppe unter aphasiker.niedersachsen@outlook.de erreichbar. Weitere Informationen gibt es unter oldenburger.aphasie-treff.de
Weil Bruce Willis unter Aphasie leidet, hat die Sprachstörung in den vergangenen Wochen große Aufmerksamkeit erlangt. Angehörige des US-Schauspielers haben das Ende der Karriere des Darstellers, der vor allem als Action-Held John McClane berühmt geworden ist, bekannt gegeben. Was bei dem Schauspieler der Auslöser für die Aphasie ist, ist weiter unbekannt.
Schlaganfälle sind bei einem Großteil der Betroffenen Auslöser der Sprachstörung. Aber auch Hirnblutungen, Verletzungen, Entzündungen des Gehirns und Tumore können die Sprachstörung auslösen. Aphasie bedeutet so viel wie „Verlust der Sprache“. Betroffen sind alle sprachlichen Fähigkeiten, also das Sprechen und Verstehen, Lesen und Schreiben. Aphasie hat nichts mit einer Denkstörung zu tun, das innere Denken und das Wissen sind nicht oder nur gering gestört.
Unterschieden werden vier Arten:
• Die globale Aphasie ist die schwerste Form, eine sprachliche Verständigung ist mit Betroffenen kaum oder gar nicht mehr möglich. Spontansprache und Sprachverständnis, Lesen und Schreiben sind schwer beeinträchtigt. Globale Aphasiker können nur Teile von Worten sprechen und verstehen und nur einfachen Aufforderungen folgen.
• Broca-Aphasiker sprechen meist mühsam, stockend und mit vielen Pausen. Sie verwechseln Laute, Sätze sind unvollständig und sie haben Probleme beim Finden der Worte. Das Sprachverständnis ist aber weniger stark gestört. Lesen oder Schreiben ist möglich, ist aber analog zur Sprache gestört.
• Wernicke-Aphasie ist die Störung des Sprachverständnisses besonders ausgeprägt. Betroffene verstehen Gesprochenes meist nur teilweise, beim Sprechen kommt es zu Wort- und Lautverwechslungen und falschem, verschachteltem Satzbau. Sie reden teils viel, das Gesagte macht nur keinen Sinn.
• Bei der amnestischen Aphasie sind die Wortfindungsstörungen ausgeprägt, das Sprachverständnis ist gut erhalten, auch Lesen und Schreiben sind kaum beeinträchtigt. Die Spontansprache ist gut, nur etwas zögernd.
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