Wenn die 112 zum Notfall wird – eine Nacht bei den Rettungssanitätern
Artikel vom 13.04.2023

Der 33-jährige Feuerwehrmann und Rettungssanitäter René Siebolds bereitet sich auf den nächsten Notfall vor. Bild: Lübbe
112 – die Nummer für den Notruf bei Unfällen oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Doch oft wird der Notruf gewählt, wenn kein Notfall vorliegt. Ein Blick in die Praxis bei den Rettungssanitätern in Wilhelmshaven.
Das Desinfektionsmittel hinterlässt kleine runde Flecken auf den blauen Latexhandschuhen, die er trägt. Ein beißender Geruch von Ethanol liegt in der Luft. Im gellen Licht im Rettungswagen desinfiziert Rettungssanitäter Jens Friedrichs weit nach Mitternacht die Gerätschaften nach einem Einsatz. Er seufzt. Weil sich Kollegen krankheitsbedingt abgemeldet haben, sind er und sein Kollege die letzten Rettungssanitäter in Wilhelmshaven, die in Bereitschaft für 76 000 Einwohner stehen. Eine Situation, die immer öfter vorkommt. Dennoch beginnt dieser Freitagabend ruhig.
Erste Meldung: Leichte Atemnot
Kurz vor halb zehn auf der Feuerwehrwache: Das Licht in der Küche ist gedimmt, es ist still auf den Gängen. Friedrichs beißt genüsslich in einen Apfel, der genauso rot ist wie seine Hose, als der Melder beginnt zu vibrieren. Er schaut kurz drauf. „Leichte Atemnot.“ Über den Tisch hinweg nickt er seinem Kollegen zu, der die Meldung bereits gelesen hat. Ein weiteres Mal beißt er von seinem Apfel ab, schlüpft in die schwarzen Schuhe und streift sich die Jacke über. In unter einer Minute schaffen es die Rettungssanitäter, die in ihrer Hauptaufgabe Feuerwehrmänner sind, bei einem Rettungseinsatz in ihren Fahrzeugen zu sitzen. Egal, wo sie sich im Gebäude befinden. Dafür sorgen Rutschstangen, die über den Flur erreichbar sind und in den unteren Stockwerken direkt zu den Fahrzeugen führen.
Notfall oder Kleinigkeit – das wird sich am Einsatzort herausstellen. Immer öfter sind es keine Notfälle. Oft hätten die Patienten bereits seit Längerem Beschwerden oder es seien Bagatellen, die ein Hausarzt behandeln könnte. Doch „keiner will mehr Verantwortung übernehmen“, erzählt der großgewachsene Kollege von Friedrichs. Besonders junge Menschen rufen immer öfter den Rettungsdienst, erklärt er.
Der Rettungswagen fährt mit hoher Geschwindigkeit durch die Stadt. Noch sind die Straßen voll, die Menschen sind unterwegs. Der Notfall liegt etwas außerhalb, trotzdem ist der Rettungswagen nach knapp zehn Minuten vor Ort. Auch wenn Friedrichs‘ Kollege viele Straßen der Stadt kennt, genaue Ortskenntnisse braucht er eigentlich nicht. Der Melder speist Adressen automatisch in das Navigationsgerät des Rettungswagens ein.
Die Familie wartet schon vor der Haustür, als der Rettungswagen vorfährt. Friedrichs streift sich eine FFP2-Maske über. Als Notfallsanitäter übernimmt er die Erstversorgung des Patienten, sein Kollege unterstützt ihn dabei als Rettungssanitäter, wenngleich beide auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Der Sanitätsrucksack wiegt schwer auf seiner Schulter.
Von der Ehefrau werden die Sanitäter ins Schlafzimmer geführt, dort sitzt ihr Mann, nur mit Unterhose und Unterhemd bekleidet, auf der Bettkante. Er sieht müde aus, hustet stark, hält sich zum Schutz ein Taschentuch vor den Mund. „Wie geht es Ihnen?“, fragt Friedrichs und kniet sich vor den Patienten. Dieser nickt, versucht zu antworten, doch seine Antwort erstickt in einem erneuten Hustenanfall.
Friedrichs nimmt das Stethoskop, das um seinen Hals baumelt und hört den Mann ab. Der Kollege misst derweil Fieber, Friedrichs packt die Elektroden aus, schließt den Mann an ein EKG-Gerät an. Die Rettungssanitäter sind schnell und routiniert. „38,7 Jens.“ Friedrichs nickt. „Wir werden sie mit ins Krankenhaus nehmen, ich tippe auf eine Lungenentzündung.“
Aufgeregt folgt die Ehefrau den Sanitätern, die ihren Mann stützend zur Haustür begleiten, mit einem kleinen Koffer in der Hand, den sie bereits gepackt hat. Im Rettungswagen wird klar, der Patient leidet bereits seit mehreren Tagen unter starkem Husten, auch die Atemnot hält seit dem frühen Freitagmorgen an. Das EKG-Gerät piept, die Herzfrequenz steigt, als Friedrichs ihm eine Inhalationsmaske über das Gesicht streift und der Patient tiefe Atemzüge nimmt.
Feuerwehrwache ist das zweite Zuhause
Für Jens Friedrichs sind solche Einsätze Routine. Seit über zehn Jahren ist der gelernte Klempner schon bei der Feuerwehr und hat bedeutend schlimmere Dinge gesehen. Seine Ausbildung absolvierte er in Hamburg. Diese Zeit hat ihn geprägt. Bis heute. Ob er als Notfallsanitäter deshalb so besonnen und ruhig reagiert? Er hält es für möglich. Man merke, welche Kollegen einmal auf einer größeren Wache gearbeitet haben, sagt Friedrichs.
In Hamburg hat er alles erlebt. Fragt man ihn nach Notfällen, die er nicht mehr vergisst, fallen ihm gleich zwei ein. Ein Suizid, bei dem er Leichenteile an den Gleisen suchen musste. „Man kann sich nicht vorstellen, wie schwer ein abgetrennter Oberschenkel sein kann.“ Der zweite Fall: ein ertrunkenes Kleinkind. Ein Badeunfall im hauseigenen Pool. Das Ereignis liegt noch nicht lange zurück. Notfälle mit Kindern seien immer schwierig, betont der vierfache Vater.
Den unter Atemnot leidenden Mann haben Friedrichs und sein Kollege ins Krankenhaus gebracht und obwohl der Einsatz nicht lebensbedrohlich war, kehren die beiden erst nach anderthalb Stunden gegen 23 Uhr wieder zurück auf die Wache. Dass auch vermeintlich harmlose Einsätze eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, sei normal. In der Regel würden die Einsätze knapp 45 Minuten dauern.
Der Kollege füllt im Rettungswagen Tücher und Medikamente auf, Friedrichs tauscht im Nebenraum die schweren Arbeitsschuhe gegen Turnschuhe. Wer läuft schon mit dreckigen Schuhen durch das eigene Wohnzimmer? Die Feuerwache ist für Friedrichs und seine Kollegen wie ein zweites Zuhause. „Wir verbringen hier wahnsinnig viel Zeit.“
Gefragt sind Teamplayer, sonst gibt es Reibereien. „Wenn jemand den Müll nicht weggeräumt hat, wird das natürlich geklärt, wie in einer Familie auch.“ In der Küche steht noch Kuchen, von dem sich der Kollege Siebolds kurz vor Mitternacht ein kleines Stück genehmigt. Im Hintergrund läuft das Radio, einige Kollegen spielen am Handy. Sie warten auf den nächsten Einsatz. Hier sitzen sie zusammen, reden über alles Mögliche und auch über vergangene Ereignisse.
Älterer Mann zieht sich Platzwunde zu und blutet stark
Viel Zeit zum Unterhalten haben sie nicht, erneut geht der Melder los. Ein Notfall im Pflegeheim. Friedrichs nimmt einen schnellen Schluck aus seiner Wasserflasche und schon geht es los. Viele der Bewohner im Heim schlafen bereits, als der Rettungswagen um halb zwölf auf den Hof fährt. Blutspritzer finden sich am Laken und am Holz des Bettes wieder, als Friedrichs und Siebolds das Zimmer betreten.
Ein älterer Herr sitzt auf der Bettkante. Er hat Probleme, sich zu artikulieren. Er sei gestürzt, so richtig wisse er aber nicht, wie. Die Altenpflegerin hat die Platzwunde am Kopf bereits verbunden, doch die Blutung ist stark und dringt durch die Mullbinde. Vorsichtig nimmt Friedrichs den Verband ab und schaut sich die Wunde an. „Das muss genäht werden.“ Er überfliegt die Unterlagen, der Mann nimmt für sein Alter erstaunlich wenig Medikamente und scheint auch sonst körperlich fit zu sein. Erleichtert ist die Altenpflegerin, als der Herr auf der Trage Richtung Rettungswagen geschoben wird.
In Pflegeheimen spüren die Rettungssanitäter, wie das Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt. Fehlendes Personal und fehlender Nachwuchs erschweren die Lage. Wird neues Personal eingestellt, fehlen oft Grundlagen und Qualifikationen. Das führt so weit, dass selbst ein herausgezogener Katheter zum Notfall wird. „Das kommt schon vor, wir legen dann den Katheter neu, weil die Pflegekräfte es oft schlicht nicht können.“ Das bindet die Rettungssanitäter, obwohl die Zeit knapp ist.
Der alte Herr hat an diesem Freitagabend Glück im Unglück. Nur wenige Patienten liegen in der Notaufnahme.
Patientin zu schwer für die Trage
An dieser Stelle ist der Einsatz für Friedrichs und seinen Kollegen eigentlich beendet, aber weil so wenig in der Notaufnahme los ist, wollen beide die Behandlung abwarten und den Mann wieder zurück in die Pflegeeinrichtung bringen.
Doch dazu kommt es nicht. Die Leitstelle ruft an. Ein weiterer Rettungswagen werde benötigt. „Was ist passiert?“, fragt Friedrichs und blickt sich suchend nach seinem Kollegen um. Weil das Team des anderen Rettungswagens einen Patienten nach Westerstede in ein Krankenhaus bringt, versorgen Kollegen aus Friesland den Notfall. Doch die Patientin wiegt knapp 140 Kilo, dem Gewicht würde die Trage der Friesländer nicht standhalten.
„René, wir müssen los.“ Und so eilen die beiden Sanitäter zum Rettungswagen, während der ältere Herr im Untersuchungsraum sitzt. „Kurz stillhalten“, sagt die Assistenzärztin und klammert die Wunde. Er schließt schmerzverzerrt die Augen.
Was wäre, wenn?
Zum Durchatmen haben die beiden Rettungssanitäter jetzt keine Zeit. Das Blaulicht spiegelt sich in den Fenstern wider, als die beiden in die Straße einbiegen und vor dem anderen Rettungswagen parken. Mit schnellem Schritt eilt Friedrichs in die Wohnung, doch die Kollegen aus Friesland haben die Patientin, die an einer Herzrhythmusstörung leidet, bereits versorgt. Lediglich der Transport ist das Problem. Glücklicherweise kann sie selbstständig zum Rettungswagen laufen. Friedrichs und seinem Kollegen bleibt schweres Heben erspart.
Der Notfall ist nicht lebensbedrohlich und doch werden in diesem Moment zwei Rettungswagen benötigt mit vier ausgebildeten Rettungssanitätern an Bord. Und zwangsläufig stellt man sich die Frage, was wäre, wenn? Wenn es jetzt einen schweren Unfall gäbe? Wenn mehrere Menschen verletzt wären? Wenn es zu einem Großbrand kommen würde? Das EKG, das Friedrich im Rettungswagen auswertet, zeigt im ersten Moment keine Auffälligkeiten. Doch die Patientin hat diese Probleme nicht zum ersten Mal. An diesem Abend sei es mal wieder besonders schlimm gewesen, sagt sie. Ihr ganzer Körper zittert.
Es geht ruhig zu, als sie die Patientin in der Notaufnahme abliefern. Der ältere Herr aus dem Pflegeheim hockt noch immer im gleichen Untersuchungsraum und sitzt im Schneidersitz. Er starrt vor sich hin. „Wenn ich in so einem Alter noch solche Verrenkungen machen kann.“ Die Assistenzärztin schüttelt den Kopf und lacht. Friedrichs geht auf den Mann zu und bittet einen Krankenpfleger, ihm beim Tragen zu helfen. „Kommen Sie, es geht nach Hause.“
Nach 24 Stunden ist die Schicht beendet
Friedrichs streift seine blauen Latexhandschuhe von den Händen und wirft sie in den Mülleimer. „Jetzt passiert hoffentlich nicht mehr allzu viel“, sagt er zu seinem Kollegen, der bereits die Trage für den nächsten Einsatz desinfiziert. In wenigen Stunden werden sie Feierabend haben. Es wird noch nicht richtig hell sein, wenn Friedrichs und Siebolds nach Hause fahren und ins Wochenende können. Das beginnt – wie fast alle im Anschluss einer 24-Stunden Schicht – mit ein bisschen Schlaf. Sich zu entspannen und Ausgleich zu schaffen sind wichtig, um die herausfordernden Aufgaben als Rettungssanitäter zu bestehen. Schon in zwei Tagen haben beide wieder Dienst in der Mozartstraße und warten auf den nächsten Alarm. Der wird kommen, das ist sicher.
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