Mit Pinsel und Aquarellfarbe zurück ins Leben
Artikel vom 18.01.2023

Stundenlang kann Christel Siede mit dem Pinsel in der Hand in ihrer kleinen Werkstatt stehen und sitzen und malen. Die Techniken der Aquarellmalerei hat sie sich selbst beigebracht. Bild: Julia Dittmann
Christel Siede aus Esens lag nach einer Hirnblutung fast 17 Tage im Koma. Zurück zu einem normalen Leben war es ein langer Weg. Dabei geholfen hat der 74-Jährigen unter anderem die Malerei.
Die ersten Seiten sind gefüllt mit wackeligen Männchen und einzelnen Wörtern in krakeliger Schrift – der Ordner, den Christel Siede aufblättert, sieht aus wie die ersten Mal- und Schreibversuche eines Kindes. Die Esenser Künstlerin war aber 32 Jahre alt, als diese Zettel entstanden. Je weiter man blättert, desto detaillierter werden die Bilder und desto sauberer die Schrift. Das war 1981, im Sommer erlitt die gelernte Erzieherin eine Hirnblutung, lag fast 17 Tage lang im Koma. Heute zieren unzählige Aquarellbilder die Wohnräume von Bernd und Christel Siede in Esens.
Eine Seite gelähmt
„Aber damals war das eine schwere Zeit“, erzählt Bernd Siede. Das Paar wohnte mit seinen drei Töchtern in Solingen. Als seine Frau im Koma lag, lief der Verwaltungsbeamte jeden Tag zweimal in den achten Stock des Krankenhauses und fragte, ob sich etwas verändert hat. Als Christel Siede aufwachte, war ihre rechte Seite gelähmt, und ihre Fähigkeit zu sprechen war weg.
Wie kämpft man sich in so einem Fall zurück ins Leben? „Mit eisernem Willen“, antwortet Bernd Siede. Geholfen hat ihr dabei die Malerei. „Gemalt habe ich schon als Kind“, erzählt die 74-Jährige. Aber zum Aquarell kam sie durch Zufall: Eine Mitpatientin im Krankenhaus schenkte ihr später eine kleine Packung Aquarellfarbe aus ihrem Bastelgeschäft. „Dann musste ich üben. Aquarell ist mit die schwerste Art des Malens, weil es so kompliziert und vielfältig ist“, erklärt die Künstlerin. Man könne nicht einfach den Pinsel in die Hand nehmen und loslegen.
Eine zusätzliche Schwierigkeit für Christel Siede ist ihre Sehbehinderung. Seit der Hirnblutung hat sie ein eingeschränktes Sichtfeld, wie ein Tunnelblick. „Sie braucht eine bestimmte Körper- und Kopfhaltung zum Malen und Schreiben“, erklärt Bernd Siede. Das gehe aber langfristig auf den Nacken.
Eigentlich braucht die Esenserin vor allem Zeit. Wenn sie malen möchte, steht sie früh auf, das Paar frühstückt gemütlich, es wird aufgeräumt – und dann geht es in die Werkstatt. „Sie malt und schreibt auch mal acht Stunden am Stück“, erzählt Bernd Siede.
All das Malen und Schreiben ist aber vor allem möglich, seit die drei Töchter aus dem Haus sind. Und seit das Paar mit dem Ruhestand von Bernd Siede das Haus in Solingen verkaufte und nach Esens ging.
Diagnose Brustkrebs
Der Bezug zur Nordseeküste entstand durch ein Ferienhaus einer Bekannten auf Langeoog, in dem Christel Siede einige Wochen nach einer Operation verbrachte. Denn Krankenhäuser kennt die Künstlerin in- und auswendig: Neben je zwei künstlichen Hüft- und Kniegelenken musste auch ein Oberschenkelhalsbruch behandelt werden. 2006 kam die Diagnose Brustkrebs dazu. „Nach der OP war ich auf Langeoog und danach immer wieder für ein paar Wochen“, erzählt Siede. Dort malte und schrieb sie – inzwischen hat die 74-Jährige zwei Autobiografien und einen Roman herausgebracht.
Mit dem häufigeren Urlaub an der Küste wuchs der Wunsch, im Alter hierher zu ziehen. Nun sind Bernd und Christel Siede – die vergangenes Jahr ihre goldene Hochzeit feierten – seit mehr als zehn Jahren in Esens glücklich.
Und immer mehr Aquarellbilder entstehen in Christel Siedes Werkstatt. Die Techniken hat sich die Autodidaktin selbst beigebracht. Einige ihrer Bilder sind in der Physiotherapie-Praxis „Comeback“ von Jeannette Weigert im Wittmunder Ärztehaus ausgestellt.
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