Das große Sterben der Seeschwalben geht weiter
Artikel vom 29.06.2022

Diese an Vogelgrippe erkrankte Brandseeschwalbe hat keine Chance mehr. Völlig apathisch sitzt sie auf dem Außendeichsweg zwischen Horumersiel und Crildumersiel. Bild: Iris Woltmann
Die Vogelgrippe grassiert unter Brutvögeln im niedersächsischen Wattenmeer. Erstmals sind Bestände von Seeschwalben im Nationalpark massiv betroffen.
Sie sind kaum zu übersehen: tote Vögel im Spülsaum. Meist handelt es sich dabei um Brandseeschwalben, die derzeit in Kolonien auf Baltrum, Langeoog und Minsener Oog brüten. Minsener Oog hat mit ca. 3000 Brutpaaren die derzeit größte Brandseeschwalbenkolonie im niedersächsischen Wattenmeer. Dort breitet sich das hoch infektiöse Vogelgrippevirus H5N1 rasant aus und hat allein in der weiteren Umgebung von Minsener Oog bereits zu rund 900 Totfunden geführt – die toten Vögel liegen zumeist am Spülsaum in Horumersiel/Schillig. Die Dunkelziffer schätzt die Nationalpark-Verwaltung Wattenmeer in Wilhelmshaven auf ein Vielfaches geschätzt. Ein Ende des Seeschwalbensterbens auf Minsener Oog ist nicht abzusehen.
Aber auch Flussseeschwalben, Lachmöwen und Basstölpel, vermutlich aus britischen Brutkolonien, sind von der Vogelgrippe betroffen. Die Naturschutzwarte des Mellumrats kontrollieren täglich einen Strandabschnitt der Insel Minsener Oog auf Totfunde, um den Verlauf des Infektionsgeschehens zu verfolgen. „Wir sehen derzeit viele tote Brandseeschwalben auch in der Kolonie. Daher ist zu befürchten, dass viele Küken nicht mehr durch ihre Eltern gefüttert werden können. Dies bedeutet ihren sicheren Tod, da sie verhungern“, berichtet Dr. Dietrich Frank, Beauftragter des Mellumrats für Minsener Oog.
Die Situation ist vergleichbar mit den Flussseeschwalben am Banter See in Wilhelmshaven, wo ebenfalls ein hoher Anteil der Altvögel an der Vogelgrippe verendet. Insgesamt sind Seeschwalben im gesamten südlichen Nord- und Ostseebereich betroffen, in Nordfrankreich und in den Niederlanden sind bereits hohe Anteile des Brutbestandes gestorben und große Brutkolonien wurden aufgelöst.
Brand- und Flussseeschwalben sind langlebige Vögel, die 20–25 Jahre alt werden können und ab einem Alter von 1–3 Jahren mit der Fortpflanzung beginnen. Beide Arten sind nach der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands als stark gefährdet bzw. vom Aussterben bedroht eingestuft, auch wenn sich die Bestände der Brandseeschwalbe in Niedersachsen in den letzten Jahren positiv entwickelt hatten. Bei langlebigen Vogelarten wird die Bestandsgröße vor allem durch die Sterblichkeit der Altvögel bestimmt. Dies lässt starke Rückgänge im Bestand beider Arten in den nächsten Jahren befürchten.
„Dies ist ein massiver Bestandsverlust von prägenden und wertbestimmenden Vogelarten für den Nationalpark. Die Auswirkungen auf das ökologische Gefüge, bei solchen Zugvögeln auch über das Wattenmeer hinaus, lassen sich derzeit überhaupt noch nicht abschätzen“, zeigt sich Peter Südbeck, Leiter der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer, tief besorgt. Die Tödlichkeit von Infektionskrankheiten führt allgemein vor Augen, wie wichtig es ist, Tiere durch Störungen nicht zusätzlich unter Stress zu setzen. Vielmehr sind akute Anstrengungen im Artenschutz nötig, um auch menschliche Gefährdungsursachen zu minimieren.
Für alle, die tote oder mutmaßlich kranke Vögel entdecken, gelten folgende Regeln:
• Fassen Sie die Tiere auf keinen Fall an. Menschen können zu Virenträgern werden und die Geflügelpest in andere Teile des Landes verschleppen.-
• Halten Sie Abstand, lassen Sie das Tier an Ort und Stelle und lassen Sie die Vögel in Ruhe sterben.
• Halten Sie auch Ihren Hund auf Abstand (die generelle Anleinpflicht gilt bundesweit bis Ende Juli!).
• Melden Sie Beobachtungen und aktuelle Zahlen bei Auffälligkeiten den Veterinärbehörden der jeweils betroffenen Kreise. Dort wird über ggf. hieraus abzuleitende Maßnahmen entschieden (z.B. eventuelle Beprobungen etc.).
Die Nationalparkverwaltung stellt in Kooperation mit dem NLWKN, dem Mellumrat und Veterinärbehörden die Gesamtzahl der aufgefundenen Vogelgrippe-Opfer im Wattenmeer zusammen. Wenn Sie dieses Monitoring des Vogelgrippe-Geschehens unterstützen wollen, melden Sie bitte entsprechende Beobachtungen an poststelle@nlpvw.wattenmeer.de, mit möglichst genauer Ortsangabe, Art (ggf. Foto), Zustand (bspw. frisch tot) und Anzahl der Vögel. Die Meldung solcher Zufallsfunde ergänzt das systematische Monitoring durch Fachleute von NLWKN und Nationalparkverwaltung. Ein gezieltes „Suchen“ durch Freiwillige ist allerdings weder sinnvoll noch erforderlich.
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